Genug geschmust beim "Eurovision Song Contest"!

Warum "Lord of the Lost" die beste ESC-Wahl ist

Lord of the Lost vertreten Deutschland mit "Blood & Glitter" beim ESC in Liverpool.
Lord of the Lost vertreten Deutschland mit "Blood & Glitter" beim ESC in Liverpool. © picture alliance, R7131 Christoph Hardt

Von Claudia Spitzkowski

Waaas, diese lauten und geschminkten Typen sollen uns beim „Eurovision Song Contest“ am 13. Mai in Liverpool vertreten!? Um Himmels Willen! So oder ähnlich werden wohl all diejenigen gedacht haben, die beim ESC-Vorentscheid NICHT für die Hamburger Dark-Rock-Band „Lord of the Lost“ mit ihrem Song „Blood & Glitter“ gevotet haben. Dabei sind die Jungs um Sänger Chris Harms die allerbeste Wahl. Ein Kommentar.

Lesetipp: ESC-Vorentscheid: Rockband "Lord Of The Lost" wird für Deutschland antreten

Wir brauchen mehr „Blut und Glitter“ beim ESC!

„Hat sich stets bemüht“ steht gerne mal als Formulierung in mittelmäßigen Arbeitszeugnissen. Auch Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren „stets bemüht“, beim „Eurovision Song Contest“ auf die vorderen Plätze zu kommen. Leider war unser Bemühen, die internationale Jury und das Publikum musikalisch zu beeindrucken, fast nie von Erfolg gekrönt. Seit 2010, als Lena mit „Satellite“ siegte, lagen die deutschen Acts leider immer auf den letzten Plätzen. Einzig Michael Schulte schaffte 2018 mit „You Let Me Walk Alone“ einen für uns wirklich beachtlichen vierten Platz.

Warum mag uns denn keiner? Ich habe als regelmäßige ESC-Zuschauerin da so einen Verdacht. Wir zeigen zu wenig Kante und trauen uns zu wenig, auch mal gegen den musikalischen Strom zu schwimmen. Viel zu oft waren unsere Beiträge in den vergangenen Jahren nur eine weitere Betroffenheits-Ballade, ein weiterer softer Pop-Song mit ausgefeilter Choreografie, aber ohne Wiedererkennungswert. Womit ich das Talent der Sängerinnen und Sänger, die uns beim ESC vertreten haben, nicht schmälern möchte. Ich würde mir nur ein bisschen mehr „Hallo, da sind wird – wir sind nicht zu übersehen und zu überhören“-Attitüde wünschen. Ein bisschen mehr „Blood & Glitter“ eben.

"Blood & Glitter" steht gerade uns Deutschen gut zu Gesicht

Aber „Lord of the Lost“ HABEN Wiedererkennungswert. Sie sind laut, sie fackeln bei ihren Auftritten die halbe Bühne ab, sie sind geschminkt. Weder musikalisch, noch optisch, werden sie in der Masse der anderen ESC-Acts untergehen. Schon jetzt ist klar, dass sich die internationalen Medien in Liverpool auf die Band stürzen werden. Nicht nur, weil Chris Harms und seine Mannen Aufmerksamkeit erregen, weil sie keine typischen ESC-Acts sind; sondern auch, weil sie keine typischen deutschen ESC-Acts sind.

Unser Image im Ausland ist ja gemeinhin eher: Verlässlich, pünktlich, fleißig. Aber irgendwie halt auch ein bisschen unsexy und wenig risikofreudig. Da steht uns ein ESC-Beitrag wie „Blood & Glitter“ extrem gut zu Gesicht. Wir trauen uns endlich mal was.

Ja, „Blood & Glitter“ mag laut sein und nicht jedermanns Geschmack (das sind die schmusigen ESC-Pop-Balladen aber übrigens auch nicht). Doch es ist ein sehr solider Rock-Kracher, der sich gnadenlos ins Ohr frisst. Nicht unerwähnt sollte auch bleiben, dass „Lord of the Lost“ über Live-Erfahrung en masse verfügen und Sänger Chris Harms in Liverpool sicher kein Lampenfieber anzumerken sein wird.

Humor ist beim ESC NICHT, wenn man trotzdem lacht

Der eine oder andere mag jetzt anmerken, dass Ikke Hüfgold mit seinem „Lied mit gutem Text“ auch kein typischer deutscher Beitrag gewesen wäre. Frei nach dem Motto: Haha, schau mal, Europa, wie viel Humor wir Deutschen haben. Viele hätten ihn gerne für uns nach Liverpool geschickt, er wurde im Publikumsvoting Zweiter. Damit hätte Deutschland nach Guildo Horn und Stefan Raab mal wieder einen nicht ganz ernstgemeinten Song zum ESC geschickt.

Lesetipp: Ikke Hüftgold beim ESC-Vorentscheid dabei - warum er mit Hate rechnete

Doch wer zuletzt lacht, lacht in diesem Fall nicht am besten, finde ich. Nichts gegen Spaß bei einem Contest wie diesem. Aber für mich sollte es um die Musik gehen und der Wettbewerb ernst genommen werden. Fahren wir nach Liverpool, um zu gewinnen? Oder um zu zeigen, dass auch wir Deutschen Humor haben? Dafür gibt es meiner Ansicht nach besserer Gelegenheiten als bei einem Musik-Wettbewerb.

Im Video: Warum Ikke Hüftgold „international und national mit viel Hate“ rechnete

Ikke Hüftgold hat es zum ESC-Vorentscheid geschafft
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Ikke Hüftgold hat es zum ESC-Vorentscheid geschafft

Keine Angst, wir Goths beißen nicht!

Und jaaa, ich höre Einige immer noch ängstlich flüstern: „Aber ‘Lord of the Lost’ sind so laut und so düster?“ Keine Angst, wir Goths beißen nicht! Wer schon mal auf einem Festival der „Schwarzen Szene“ dabei war, der durfte erfahren, was für freundliche, tolerante und nette Menschen wir sind. Echt jetzt.

„Lord of The Lost“ haben das übrigens bereits eindrucksvoll bewiesen. Nicht nur, dass sie ganz bescheiden ihren Sieg beim Vorentscheid zunächst gar nicht fassen konnten, ihr erstes Dankeschön danach galt auch ihren Konkurrentinnen und Konkurrenten: „Und größter Respekt, Dank und Liebe an Euch: Anica Russo, René Miller, Will Church, Patty Gurdy, Trong, Frida Gold, Lonely Spring und Ikke Hüftgold. Wir haben ab Tag 1 der Proben den Spirit des ESC gelebt: united by music. Miteinander – nicht gegeneinander.“

So nämlich. Von wegen, der Goth an sich beißt kleinen Kindern bei Vollmond die Köpfe ab!

Endlich eine Wertschätzung für die Goth-Community

Ich drücke den Jungs fest die Daumen. Ob es für die vorderen Plätze reicht? Der ESC ist jedes Jahr wieder eine Wundertüte und nichts lässt sich vorhersagen. Für mich, die sich selbst durchaus als Goth bezeichnen würde, ist aber allein die Tatsache, dass „Lord of the Lost“ für uns nach Liverpool reisen dürfen, etwas Besonderes. Es bedeutet, dass eine Community, der immer noch viele Vorurteile entgegen gebracht wird, Wertschätzung und positive Aufmerksamkeit erfährt.

Ich bin mir sicher, dass Chris Harms und Co, uns würdig vertreten werden. Uns ALLE. „We are free to break and change“, heißt es in „Blood & Glitter.“ Und dieses Ausbrechen und Verändern wünsche ich mir für den „Eurovision Song Contest“ 2023.

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