Leonardo DiCaprio auf Oscar-Kurs: 'J. Edgar'

4 von 5 Punkten
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Leonardo DiCaprio in eine historische Person verwandelt. Bereits in 'Aviator' (2004) verkörperte er unter der Regie von Martin Scorsese den exzentrischen Flugpionier Howard Hughes. Für den neuen Film von Hollywood-Legende Clint Eastwood verwandelt sich der 'Titanic'-Star nun in einen der ehemals mächtigsten Männer der Vereinigten Staaten. Auch wenn er als betagter Mann etwas übertrieben auf alt geschminkt wurde, ist DiCaprio als innerlich zerrissener FBI-Chef J. Edgar Hoover auf bestem Weg in Richtung Oscar.
Dabei ist 'J. Edgar' alles andere als eine gewöhnliche Film-Biographie. Das Drehbuch zu dem neuen Epos des 83-jährigen Altmeisters Eastwood konzentriert sich in der Darstellung des legendären und gefürchteten, langjährigen Chefs der amerikanischen Bundespolizei vor allem auf Aspekte, die bisher weitgehend im Verborgenen geblieben sind. So stempelt Eastwood den FBI-Chef nicht nur als machthungrigen Menschen ab, dessen Kommunisten-Paranoia im Laufe der Jahre immer schlimmer wurde. Vielmehr zeichnet er das Bild eines Muttersöhnchens und verkappten Homosexuellen, der sich in seiner Zerrissenheit und der Schwulenfeindlichkeit seiner Zeit, nie offen zu seinen Gefühlen bekennen konnte.
Das Drama beginnt mit dem alternden Hoover (unter der Maske nur auf den zweiten Blick erkennbar: Leonardo DiCaprio), der einem Angestellten seine Lebensgeschichte diktiert. Nach einem mit Bravour abgeschlossenen Jura-Examen kann der Musterstudent 1917 für den Staatsdienst gewonnen werden. Bereits wenige Jahre später wird Hoover 1924 zum Chef des 'Bureau of Investigation', dem Vorläufer des FBI, befördert, und das nicht von ungefähr. Mit einer ungeheuren Energie geht er gegen alles vor, was er für staatsfeindlich hält: Verbrecher, Kommunisten, Radikale, Freidenker. Seine Methoden sind dabei ebenso heroisch wie skrupellos. Eine besondere Hilfe erfährt Hoover in dieser Zeit vor allem von seiner Sekretärin Helen Gandy, hinreißend gespielt von Naomi Watts ('King Kong'), die ihm ein Leben lang treu ergeben sein wird.
Wissen ist Macht - und das nutzte Hoover gnadenlos aus

Die brutale Entführung des Babys von Charles Lindbergh wird bald aber zu einer seiner größten Herausforderungen. Dieser Kriminalfall hielt 1932 die ganzen USA in Atem und nimmt in Eastwoods Epos eine zentrale Stellung ein – denn die Aufklärung des Falls verschaffte dem FBI-Chef eine Machtposition, die bis zu seinem Tod im Jahr 1972 fast fünf Jahrzehnte hielt und acht Präsidenten überdauerte. Doch so sehr Hoover sich auch in seinen Erfolgen sonnte und sein öffentliches Image geschickt zu steuern versuchte, so vehement verbarg er sein Privatleben. Schon früh wird Hoover auf den eloquenten und nur wenige Jahre jüngeren Clyde Tolson (Armie Hammer, 'The Social Network') aufmerksam, den er als Mitarbeiter gewinnen kann. Innerhalb weniger Jahre mausert sich dieser nicht nur zu seinem Stellvertreter, sondern eröffnet dem jungen FBI-Chef auch eine ganz neue Welt.
Drehbuchautor Dustin Lance Black, der 2009 mit seinem Drehbuch über den schwulen US-Politiker Harvey 'Milk' bereits den Oscar für das beste Originaldrehbuch gewonnen hat, lässt keinen Zweifel daran, dass sich zwischen den beiden Männern auch eine tiefe Liebe entwickelt, die sie aber nicht offen ausleben können. Erst recht nicht im Schatten von Hoovers dominanter Mutter - brillant gespielt von Judi Dench, die seit 'Golden Eye' die MI6-Chefin 'M' in den Bond-Filmen verkörpert. Als übermächtige Mutter gibt sie ihrem Sohn zu verstehen, dass sie lieber einen toten Sohn hätte als einen mit 'widernatürlichen Neigungen'.
So unbekannt diese Aspekte der breiten Öffentlichkeit bisher auch gewesen sein mögen, so interessant ist die Überlegung, wie stark das eigene Versteckspiel den nach außen knallharten Hoover in seinem akribischen Eifer, pikante Geheimnisse von Politikern zu sammeln, angefeuert haben mag: Wissen ist Macht, und das machte Hoover unantastbar. In dem bewegenden und bis in die Nebenrollen optimal besetztem Film beweist DiCaprio mit seiner sensiblen Darstellung eines in seiner Identität zerrissenen FBI-Chefs einmal mehr, welch hervorragender Schauspieler in ihm steckt. Da stört es auch nicht, dass die Maskenbildner es oft doch etwas zu gut mit ihm gemeint haben.
Von Norbert Dickten