Was erwartet den Kinogänger, wenn er sich in die Verfilmung der letzten Tage eines großen Literaten und Revolutionärs wie Lew Tolstoi setzt? Philosophische Diskussionen, eine tiefgründige Historienstudie oder vielleicht sogar ein Politdrama? Nichts dergleichen! “Ein russischer Sommer“ von Regisseur Michael Hoffman ist kein trockener Historienschinken, sondern vielmehr eine Mischung aus historischer Daily Soap, Komödie und Drama. Dass ein solches Genre-Wirrwarr auf Kosten der Story geht, ist kein Wunder. Wer den Film dann trotzdem noch rettet, ist Oscar-Preisträgerin Helen Mirren: Sie spielt die verzweifelte Sofia so gut, dass man mit ihr unter Tränen mitleidet und mitlacht.
Russland im Winter des Jahres 1910: Die Weltpresse hat sich vor einem abgelegenen Bahnwärterhäuschen im russischen Astapowo versammelt. Sie warten auf Neuigkeiten vom 82-jährigen Lew Nikolajewitsch Tolstoi (überzeugend: Christopher Plummer), der an einer schweren Lungenentzündung erkrankt ist und nun in dem Haus - umgeben von seinen engsten Vertrauten - im Sterben liegt. Tolstois Frau Sofia ist ebenfalls in die einsame Gegend gereist, um ihren Mann ein letztes Mal zu sehen. Doch Tolstois undurchsichtiger und zwielichtiger Vertrauter Chertkov (fies: Paul Giamatti) weigert sich beharrlich, sie zu ihm zu lassen. Wie ist es so weit gekommen? Spulen wir die Geschichte zurück zu der vorangegangenen Seifenoper, die so gar nicht zu diesen dramatischen Szenen passen will.
Nach 48 Jahren steht die Ehe der Tolstois auf der Kippe: Als Sofia erfährt, dass ihr Mann sein Werk nicht ihr und den 13 gemeinsamen Kindern, sondern dem russischen Volk vermachen will, ist Sofia völlig außer sich. Nachdem ein Streit des Ehepaares schließlich eskaliert, fasst der “Krieg und Frieden“-Autor den Entschluss, sein weltliches Leben hinter sich zu lassen und seine Frau und das Gut Jasnaja Poljan, wo Tolstois Gefolgsleute eine Kommune errichtet haben, in einer dramatischen “Nacht und Nebel“-Aktion zu verlassen. Diese Reaktion mutet jedoch ziemlich übertrieben an, da die Probleme und die Konflikte mit Sofia im Film stets ins Alberne gezogen werden und die Ehekrise nicht wirklich nachvollziehbar ist. Sofia wirkt in vielen Szenen gar wie ein kleines bockiges Mädchen, das ihren Willen nicht bekommt, sich heulend auf den Boden schmeißt und mit den Fäusten auf den Boden trommelt.
An dieser eigentlich entscheidenden Sequenz offenbart sich auch die Schwäche des Films: Durch die komödiantischen Einlagen kann man die ganze Dramatik der Beziehungskrise nicht richtig greifen. Auch die Beweggründe Tolstois, die Rechte an seinem Lebenswerk dem russischen Volk zu vermachen, werden nicht gründlich herausgearbeitet und so wird der Kinogänger genau wie Sofia von diese Entscheidung ziemlich überrumpelt.
Trotzdem glänzt “Ein russischer Sommer“, der mit fünf Nominierungen einer der Favoriten der begehrten Preise für Independent-Filme ist, vor allem durch eine grandiose Helen Mirren, die die zerrissene Gefühlswelt der Sofia Tolstoi schauspielerisch so gut umsetzt, dass man unter Tränen mitleidet, als ihr Mann sie verlässt und mitweint, als er schließlich vor ihren Augen stirbt.
Von Christina Rings