Filmkritik 'Blau ist eine warme Farbe' - Kinostart: 19.12.2013

Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux
Adèle und Emma kommen sich näher © dpa, Alamode Film

5 von 5 Punkten

Da hat in Cannes 2013 ein Film mit extrem freizügigen und dazu noch lesbischen Sexszenen die Goldene Palme gewonnen, und keiner regt sich darüber auf. Zu Recht. Denn dass Regisseur Abdellatif Kechiche (‚Couscous mit Fisch‘) sich für die intensiven Bettszenen genau so viel Zeit nimmt wie für die Dialoge seiner beiden engagierten Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos, ist nur konsequent und macht die zarte Liebesgeschichte zu einem kleinen Meisterwerk.

In seinem sensiblen Frauenporträt ist das sexuelle Erwachen seiner Protagonistin Adèle (sexy, verträumt und äußerst einfühlsam verkörpert von der nur 19-jährigen Adèle Exarchopoulos, die seit sie zwölf ist in Frankreich vor der Kamera steht) nur einer von vielen Aspekten des Erwachsenwerdens einer jungen Frau. Zu Beginn des Films ist Adèle noch Schülerin und macht ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Jungs, wobei Kechiche jedoch deutlich zeigt, dass sie bei der Selbstbefriedigung mehr Spaß hat. Nur aus dem Literaturunterricht kennt sie das Prinzip der Liebe auf den ersten Blick – bis es sie selbst erwischt. Zu Adèles Erstaunen ist es jedoch keiner ihrer Mitschüler, sondern eine Frau, deren bloßer Anblick ihr den Atem raubt: Emma (ebenso feinfühlig gespielt von Léa Seydoux, bekannt etwa aus Ridley Scotts ‚Robin Hood), eine etwas ältere Kunststudentin mit blauen Haaren.

Viel Sex, noch mehr Dialog

Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux
Schauspielerinnen Exarchopoulos und Seydoux © dpa, Ian Langsdon

Sie stellt der faszinierenden Unbekannten in Lesbenkneipen nach, und zwischen den beiden entwickelt sich vorsichtig eine zarte Bande, die sich nach vorsichtigen Gesprächen im Park in einer fast zehn Minuten langen Sexszene entlädt. Was der Zuschauer hier zu sehen bekommt, könnte man in einem anderen Kontext zumindest als Softporno bezeichnen. Hier zeigt die extrem explizite Bettakrobatik nur, wie Adèle mit Emma schrittweise zu ihrer sexuellen Identität findet, wie zwei Frauen auf jeder Ebene perfekt miteinander verschmelzen. Äußerst mutig zeigen die beiden Hauptdarstellerinnen hier fast alles – und Léa Seydoux riskiert dabei glatt ihre Hollywood-Karriere, die mit ‚Mission: Impossible – Phantom Protokoll‘ gerade erst begonnen hat und 2014 mit Wes Andersons ‚The Grand Budapest Hotel‘ weitergeht. Keine US-Schauspielerin hätte wohl auch nur zu einer der zahlreichen textilfreien Szenen ja gesagt. Die Studios in den USA tun sich immer noch schwer, Filme über Homosexualität zu finanzieren, wie Steven Soderberghs weitaus weniger offenherziger ‚Liberace‘ zuletzt gezeigt hat. Hier bildet der erfüllte Sex gleichzeitig den Höhepunkt des Films, der zeigt, was Adèle zu verlieren hat, als sie bei ihrer Identitätssuche die Beziehung zu Emma aufs Spiel setzt. Denn natürlich bleibt es nicht bei der bedingungslosen Verliebtheit der beiden Frauen…

Wer findet, dass in französischen Filmen generell zu viel geredet wird und noch nie von Eric Rohmer gehört hat, der ist hier definitiv falsch und müsste auf die viel beschworenen Bettszenen bei einer Spielzeit von 178 Minuten auch zu lange warten. Wer jedoch Sinn hat für ein vielschichtiges Drama, das keine Tabus kennt und sich dem Thema gleichgeschlechtliche Liebe ohne die üblichen Klischees nähert, wird mit großartigem Schauspielerkino und einer erfrischend anderen Inszenierung belohnt, die sicher nicht jedermanns Geschmack trifft, aber auch nicht den üblichen Beziehungs-Einheitsbrei bietet.

Von Mireilla Zirpins

Bilder: Alamode Film

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