DVD: Nackt und mit leerem Blick: Michael Fassbender in 'Shame'

5 von 5 Punkten
Viele Menschen denken, man kann gar nicht genug Sex haben - so auch Brandon, der Antiheld von 'Shame'. Aber wenn Sie Michael Fassbender ('Inglourious Basterds', 'Eine dunkle Begierde'), der für seine mutig offenherzige Darstellung eines Sexsüchtigen einen Oscar verdient hätte, 105 Minuten lang bei der Jagd auf den nächsten Orgasmus zugesehen haben, möchten Sie vermutlich erst mal lieber keine nackte Haut mehr sehen.
Fassbenders Brandon sieht gut aus, ist Anfang 30, durchtrainiert und lebt in einem schicken kleinen Apartment mitten in Manhattan. Doch schon die Eröffnungssequenz stellt klar, dass die Höhepunkte seines Lebens höchstens sexueller Natur sind. Er steigt nackt aus dem Bett, pinkelt bei offener Tür und holt sich unter der Dusche erst mal einen runter. Danach sehen wir die Szene nochmal in längerer Form - offenbar ging dem Ganzen Sex mit einer Prostituierten voraus - oder aber Brandons Tage ähneln sich bis hin zur Triebbefriedigung.
Er hängt ein bisschen bei einem nicht näher definierten Bürojob ab, abends gehen sein Chef und er gern Frauen aufreißen, wobei Brandon deutlich mehr Erfolg hat als sein verheirateter Vorgesetzter. Im Grunde aber ist Brandon immer einsam, selbst wenn er unter Leuten oder mit jemandem im Bett ist.
Dieses immerhin gut eingespielte Leben zwischen Job-Langeweile, routinierten One-Night-Stands und Selbstbefriedigung auf dem Firmenklo gerät völlig aus den Fugen, als auf einmal Brandons jüngere Schwester Sissy (ungewohnt freizügig, schlecht blondiert und extrem charmant: Carey Mulligan aus 'Wall Street' und 'An Education') nackt in seiner Dusche steht. Auch sie kommt nicht zurecht in unserer modernen übersexualisierten Gesellschaft, aber was ihr Bruder an Gefühl zu wenig hat, hat sie zu viel. Sie lässt sich in Brandons Apartment von dessen Chef flachlegen und wird einmal mehr enttäuscht. Doch auch Brandon kommt damit nicht klar.
Hinter der Fassade seines maskenhaft emotionslosen Gesichts bricht seine Welt zusammen. Er verliert nach und nach alle Schutzräume. Daheim kann er nirgendwo mehr ungestört Erotikvideos anschauen, im Büro wurde gar sein Rechner konfisziert - ein Computervirus von einer Schweinkramseite hat das System lahm gelegt. Brandon flieht hinaus in die Nacht, die ihm Lust und Laster verspricht. Doch gibt es überhaupt noch etwas, das ihm einen Kick verschaffen kann? Hat er sich mit seiner sexuellen Freiheit nicht sein eigenes Gefängnis erschaffen?
Bei einem anderen Regisseur wäre mit dieser Dichte an Sexszenen vermutlich die Grenze zum Porno gestreift worden, doch Steve McQueen, der mit Fassbender zusammen schon das preisgekrönte Drama 'Hunger' drehte, geht kühl mit der Kamera ganz nah ran und lässt den Zuschauer sich am Ende für seinen Voyeurismus schämen. Bei einem nicht ganz so flotten Dreier dauert es so lang, bis Brandon kommt, dass man sich wünscht, es möge endlich vorbei sein. Das signalisiert auch Brandons Gesicht, das wir am Ende in Großaufnahme sehen: Sein Orgasmus ist nicht erleichternd, wirkt wie eine Erlösung von unendlichem Schmerz.
Auch wenn in dieser Szene am Ende der Unterleib ausgeblendet wird, muss sich der arme Michael Fassbender in weiten Teilen nackt durch den Film spielen und alles berammeln, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Manch anderer Hollywoodstar hätte das abgelehnt, aber Fassbender spielt so unglaublich nuanciert und intensiv, dass gleich klar ist, dass dieser nackte Körper nur die leere Hülle ist, in der man nach einer Seele lange suchen muss. Selten hat ein Schauspieler in ein leeres Gesicht so viel Ausdruck gepackt.
Dass der Film trotz der nicht wirklich sympathischen Hauptfigur einen richtigen Sog entwickelt, liegt nicht nur am großartigen Spiel von Fassbender, sondern auch an den stilsicher durchkomponierten Bildern McQueens - und an Carey Mulligan, deren Interpretation des Klassikers 'New York, New York' nicht nur Brandon zum Weinen bringt.
Von Mireilla Zirpins