Der Thriller zur Finanzkrise: ‚Der große Crash’

4 von 5 Punkten

In den oberen Stockwerken eines Wolkenkratzers an der Wall Street blickt eine Handvoll Banker über das nächtliche Manhattan. Sie erleben gerade die letzten Stunden einer Ära. Denn wenn die Sonne wieder aufgeht und das Tagesgeschäft beginnt, wird die Welt Zeuge einer epochalen finanziellen Krise werden – einer Katastrophe, die nur sie haben kommen sehen und die die skrupellosen Finanzhaie mitzuverantworten haben. Ein Top-Cast um Kevin Spacey, Jeremy Irons und Demi Moore glänzt in diesem Börsenthriller rund um den letzten großen Bankencrash im Jahr 2008, der die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds brachte.

Dabei endet der Film, der in den 24 Stunden vor dem Crash spielt, ganz ruhig und friedlich. Das Ausmaß der Katastrophe, die bis heute Auswirkungen auf fast alle Menschen des Planeten hat, wird nicht konkret sichtbar. Doch genau so wird die eigentliche Spannung und Dynamik des spannenden Regiedebüts von J.C. Chandor erzeugt. Das Drama nimmt seinen Lauf, als eine große Investmentbank inmitten von Manhattan reihenweise alt gediente Mitarbeiter entlässt, so auch den Top-Analysten Eric Dale (Stanley Tucci, ‚Der Teufel trägt Prada’). Obwohl er von einem Wachmann nach draußen begleitet wird, kann Eric dem Nachwuchsanalysten Peter Sullivan (gespielt von Zachary Quinto, dem jungen ‚Spock’ in ‚Star Trek’) noch in letzter Sekunde einen USB-Stick zustecken. „Sei vorsichtig!“, flüstert er ihm noch verschwörerisch zu. Dann schließt sich die Fahrstuhltür.

Das heimliche Mathematikgenie Sullivan fürchtet selbst auch um seinen Job und vergeudet keine Zeit, sich die Daten auf dem Stick anzusehen. Nach einigen kurzen Berechnungen erkennt er, was die Zahlen bedeuten: Zahlreiche, weitgehend wertlose Papiere im Besitz der Finanzhauses übersteigen den Wert der gesamten Bank: Die Firma steht kurz vor dem Ruin. Eilig werden sämtliche Verantwortliche zusammengetrommelt. Obwohl schon feststeht, dass der Ruin der Bank nicht aufzuhalten ist und an der Wall Street für einen Super-Gau sorgen wird, jagt eine nächtliche Krisensitzung die nächste. Der Zuschauer ohne Finanzdiplom mag da zwar oft kaum folgen, aber der Spannung tut dies keinen Abbruch. Zu sehr packt einen die Ohnmächtigkeit der Verantwortlichen angesichts des drohenden wirtschaftlichen Totaldesasters.

Wer ist für das Börsendesaster wirklich verantwortlich?

Demi Moore (‚Ghost’, ‚Drei Engel für Charlie’) beweist dabei in der Rolle der Sarah Robertson, die das Risikomanagement der Bank leitet, endlich wieder Schauspielqualitäten. Auch Oscar-Preisträger Kevin Spacey (‚American Beauty’) darf die Facetten seines Könnens zeigen. Als knallharter Banker zeigt er erst Gefühle, wenn der eigene Hund stirbt. Diese Form des unfreiwilligen Zynismus wird nur durch den Konzernchef John Tuld getoppt (grandios und bitter-böse gespielt von Oscar-Preisträger Jeremy Irons, ‚Verhängnis’), der eine hochspekulative Rettungsaktion anordnet. Die wertlosen Papiere müssen so schnell wie möglich verkauft werden, um die eigenen Schäfchen noch ins Trockene zu bringen. Die gefühlskalte Brutalität dieses Vorgehens macht sprachlos. Umso mehr, da diese Geschichte kein fiktives Hollywood-Drama ist, sondern sich so ähnlich abgespielt haben dürfte und Millionen von Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt hat. Die Anlehnung an die desaströsen Ereignisse rund um die bankrott gegangene Bank ‚Lehman Brothers’ ist mehr als eindeutig.

Aber wie mag wohl jemand damit umgehen, unzählige Menschen in den Ruin getrieben zu haben? Fragen nach der moralischen Schuld der Verantwortlichen werden in dem Finanzthriller leider gar nicht gestellt. Das Drehbuch konzentriert sich alleine auf die Verzweiflung der Banker mitten im kalten Herz einer jener gigantischen Wall-Street-Firmen, die als viel zu groß galten, um scheitern zu können. Und obwohl das Ende allen bekannt ist, schadet dieser ‚Titanic’-Effekt dem Film überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Die Top-Besetzung sorgt neben der atemberaubenden Story für brillante Unterhaltung, auch wenn der Film inmitten der katastrophalen Ereignisse stets kammerspielartig ruhig bleibt. Doch das Grauen braucht keine drastischen Bilder. Am Schluss geht die Sonne friedlich wie immer auf, und Demi Moore blickt nach einer langen Nacht aus ihrem Büro im 40. Stock über das gerade erwachte und noch ahnungslose New York. Und wir wissen: Nichts wird bald mehr so sein, wie es war.

Von Norbert Dickten

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