Der Geschmack von Rost und Knochen - Filmkritik

4,5 von 5 Punkten
Was für ein Alptraum: Marion Cotillard verliert in ‚Der Geschmack von Rost und Knochen‘ beide Beine und findet ausgerechnet durch einen ausgemachten Asi wieder zu Lebensmut. Will man das sehen? Unbedingt! Aber Achtung: Dieses Drama ist schwer zu ertragen.
Dass Jacques Audiards (‚Ein Prophet‘) neuer Film kein sonniger Spaziergang an der Côte d’Azur wird, merkt man schon in der ersten Szene. Da sucht ein Vater in den Mülleimern eines Zuges nach Essen für seinen fünfjährigen Sohn. Ali (der Belgier Matthias Schoenaerts aus ‚Bullhead‘) hat sich bislang nicht um seinen Spross gekümmert, doch verwahrloste der kleine Sam bei seiner drogensüchtigen Mutter. Nun sind Ali und Sam auf dem Weg nach Antibes, wo sonst Stars wie Brad Pitt und Angelina Jolie in Edel-Hotels nächtigen. Doch die beiden sehen nur die schäbige Seite des glamourösen Küstenorts, sie finden Unterschlupf bei Alis Schwester, einer Supermarktkassiererin. Ali parkt sein Kind bei einer Nachbarin, die ihm ab und zu auch sexuelle Erleichterung verschafft.
Als er einen Job als Rausschmeißer in einem Club annimmt, fällt ihm bei einer Schlägerei die hübsche Stephanie auf. Er fährt die betrunkene Disco-Maus heim, wirft einen begehrlichen Blick auf ihre schönen Beine und muss dann doch Leine ziehen, weil oben in ihrer Wohnung ihr Freund auf sie wartet, auch wenn sie mit dem nicht glücklich zu sein scheint. Seine Nummer lässt er mal da, doch bald rechnet der Zuschauer nicht damit, dass es mit den beiden nochmal was wird. Schon gar nicht, als Stephanie ihre Beine verliert.
Tour de force für Schauspieler und Zuschauer

Denn Stephanie, die tagsüber in einem Spaßbad Kunststücke mit Orcas aufführt, wird bei einem dummen Unfall mit einem der Wale schwer verletzt. Beide Beine müssen ihr oberhalb der Knie abgenommen werden. Sie denkt an Selbsttötung – und als sie Monate später frisch getrennt in ihrer neuen behindertengerechten Wohnung einzieht, auch an den Unbekannten, der sie in ihrer letzten wilden Nacht heimfuhr. Warum sie das tut? Darüber grübelt man als Zuschauer länger - wie überhaupt über manche Aktionen der Protagonisten in diesem Film. Vielleicht muss sie sich bei dem geradlinigen und wortkargen Türsteher am wenigsten vor verlogenem Mitleid fürchten.
Erstaunlicherweise verhält sich Ali, der sein Kind schlägt und Frauen generell nicht gut behandelt, ausgerechnet gegenüber Stephanie sehr sensibel und verständnisvoll. Dass die beiden doch irgendwann miteinander im Bett landen und es danach kompliziert wird, geht auf Stephanies Initiative zurück. Erst durch den Beischlaf mit Ali merkt sie, dass nicht ihr Unterleib amputiert wurde, sondern nur ihre Unterschenkel.
Die Gleichung Sex = neuer Lebensmut kann man mit Fug und Recht sexistisch und behindertenfeindlich finden, aber das feinfühlige und zugleich kraftvolle Spiel von Marion Cotillard lässt diesen Aspekt schnell vergessen. Matthias Schoenaerts ist ihr ein ebenbürtiger Partner, der das Kunststück schafft, den brutalen und grobschlächtigen Klotz Ali trotz aller seiner Verfehlungen menschlich und irgendwie doch sympathisch wirken zu lassen. Vor allem den beiden Schauspielern ist es zu verdanken, dass man sich gern gemeinsam mit ihnen durch die ernüchternden Bildwelten und durch die immer weiter steigende Spirale der Gewalt kämpft – und dabei fieberhaft darauf hofft, das hässliche Leben möge doch so was wie ein Happy End für sie bereithalten.
Von Mireilla Zirpins